WASSERWEIBCHEN SAGE
„Ach bitte, lass mich los und gib mir mein Kleid wieder“, bat das Mädchen ängstlich. „Hab keine Angst“, rief Heimdal, „ich will Dir ganz gewiss nichts tun und Dein Kleid gebe ich Dir auch zurück. Aber Du musst mir noch etwas Gesellschaft leisten und mir von Dir erzählen“. Dabei liess er kein Auge von dem Mädchen. Nur ungern liess er ihre Hand los, weil er ihr nicht weh tun wollte, aber das hauchdünne Kleid hielt er als Pfand fest in der Hand. „Ach bitte“, wiederholte das Wasserweibchen, „gib mir mein Kleid wieder. Ohne das Kleid kann ich nicht zurück“. „Gern“, sagte Heimdal, „will ich Dir Dein Kleid zurückgeben, aber du musst mir versprechen wiederzukommen. In drei Tagen ist Vollmond. Wenn Du mir versprichst, in den nächsten drei Tagen abends um diese Zeit mich hier zu treffen, so gebe ich Dir dein Kleid zurück“. Dem Wasserweibchen blieb keine andere Wahl. Nachdem sie Heimdal, der sie verzückt betrachtete, prüfend in die Augen geblickt hatte, versprach sie, an den nächsten drei Abenden zur Stelle zu sein. Heimdal reichte ihr das hauchzarte Gebilde, das sie um sich legte. Dann verschwand sie lautlos im Wasser. Heimdal regte sich noch nicht vom Fleck. Wie gebannt starte er ins Wasser, wo sich nur noch silbrige Wellen nach allen Seiten ausbreiteten. Er war in einer Hochstimmung, die er nie zuvor kennengelernt hatte. Alle seine Gedanken kreisten um das Mädchen, und wenn er daran dachte, dass er sie schon am nächsten Abend wiedersehen würde, hätte er am liebsten laut gesungen. Der nächste Tag wollte für Heimdal nicht zu Ende gehen. Nirgendwo fand er Ruhe. Endlich senkte sich der Abend. Auf dem Herrenhof wurde es ruhig. Nur noch kurze Zeit musste er warten. Viel zu früh machte er sich auf den Weg zum Bach und setzte sich neben dem Stein nieder, auf dem das Mädchen gekniet hatte. Leise murmelte der Bach, und die Strahlen des runden Mondes verzauberten das Wasser zu flüssigem Silber. Plötzlich tauchte das Wasserweibchen lautlos aus der Flut, setzte sich still auf den Stein neben Heimdal und sah ihn erwartungsvoll an. Der junge Mann, sonst nicht auf den Mund gefallen, war so verwirrt, dass er zunächst kein Wort herausbrachte. Er sah das Mädchen verliebt an und fand endlich auch einige Worte. „Wie schön, dass Du gekommen bist“, stotterte er, „ich habe schon lange auf Dich gewartet“. „Ich bin aber ganz pünktlich hier, wie ich es versprochen habe“, sagte das Mädchen und sah Heimdal freundlich an. Dann schwiegen beide eine Weile und sahen sich nur gegenseitig in die Augen. In diesen Sekunden erkannten beide, dass sie sich unrettbar ineinander verliebt hatten. Das Mädchen neigte sich zur Seite, Heimdal legte zart seinen Arm um ihre Schultern und dann besiegelten sie ihre Erkenntnis mit einem langen Kuss. Das Wasserweibchen hatte sich schon manchmal bei der Unterhaltung mit den einsilbigen Fischen gelangweilt und als Heimdal nun fragte, ob sie seine Frau werden wolle, da fiel ihr der Entschluss nicht schwer und die Zukunft erschien ihr in viel schöneren Farben. Mit einem tiefen Blick in Heimdals strahlende Augen nickte sie und war mit allem einverstanden. Heimdal und das Wasserweibchen wurden ein Paar, sie lebten glücklich in dem grossen Hof und hatten eine zahlreiche Nachkommenschaft, von der noch heute einzelne Glieder im vorderen Taunus leben. Viele Jahrhunderte hielt sich in der Familie die Erinnerung, dass eine ihrer Voreltern ein Wasserweibchen gewesen sein sollte. Auch diese Erinnerung ging allmählich verloren. Nur eine Gaststätte in der Homburger Altstadt „Zum Wasserweibchen“ erinnert noch an die alte Geschichte. Wie man heute weiss, sterben Wasserweibchen nie. Als ihre Zeit kam, die Erdenwelt zu verlassen, schlüpfte das Wasserweibchen wieder in die Fluten. In allen Generationen fand sie Menschenkinder denen es helfen konnte, ohne dass diese ahnten woher die Hilfe kam. Als der Wassergraben zugeschüttet wurde, tauschte es die Wogen des Wassers gegen die der Wolken, die immer um den weissen Turm stehen. Das Haus des Wasserweibchens aber beseelte es mit seinem Geist. Sodann verstehe jeder, dass alle Insassen immer glücklich sind, auch wenn ihnen das Wasser bis zum Halse steht. Es ist das Ur-Element des Wasserweibchens!
Quelle: Dietrich 1979: 83 ff.